Maßstab ist künftig der Grad der Selbständigkeit
Die Erwartungen an den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff sind hoch - bei Betroffenen und Angehörigen wie bei Pflegefachleuten. Und nicht minder hoch ist die Spannung, was das damit einhergehende neue Begutachtungsverfahren, das zum 1. Januar 2017 in Kraft tritt, an Veränderungen bringen wird. Was ist neu am Begriff der Pflegebedürftigkeit und in der Folge auch im künftigen Begutachtungs-Assessment (NBA), wie es im Fachjargon heißt? Diese Frage beleuchteten auf einer Tagung des Diözesan-Caritasverbandes Freiburg Expertinnen und Experten aus verschiedenen Blickwinkeln und kamen dabei zu durchaus unterschiedlichen Einschätzungen.
Nicht neu, aber ein Schritt in die richtige Richtung
Die Pflegewissenschaftlerin Sabine Bartholomeyczik, Professorin an der Universität Witten/Herdecke, bezeichnete den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff als "eigentlich nicht neu". Er nähere sich dem an, was pflegefachlich schon längst gängige Lehre sei, sagte sie. Bartholomeyczik zeigte auf, wie sich die Begrifflichkeiten bis zur jetzt aktuellen Definition als "Beeinträchtigung der selbständigen Bewältigung des Alltags" entwickelt haben. Von daher sei die Neuformulierung ein Schritt in die richtige Richtung, die Inhalte jedoch seien nicht neu. Durchaus positiv wertete die Pflegewissenschaftlerin, dass der "renovierte" Pflegebedürftigkeitsbegriff, wie sie es nannte, einen Perspektivenwechsel bringt. Nicht mehr das einzelne pflegerische Tun, das bislang in Minuten gemessen wird, steht künftig im Fokus, sondern das, was es zur Erhaltung beziehungsweise zur Verbesserung der Selbständigkeit an Unterstützung bedarf. Das entspricht, so Bartholomeyczik, eher den pflegefachlichen Vorstellungen als die bislang geltende Systematik.
Bewertung des Selbständigkeitsgrades ist eine große Herausforderung
Beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) wird die Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs durchaus als "neu" wahrgenommen und löst bei den Mitarbeitenden einen "gewissen Enthusiasmus" aus. Denn nach dem neuen Begutachtungssystem zu prüfen sei besser, als nur einen "Katalog von Verrichtungen" abzufragen, sagte der Arzt Thomas Böhler vom Beratungs- und Begutachtungszentrum Karlsruhe des MDK Baden-Württemberg. Böhler äußerte sich positiv, dass der "Maßstab künftig der Grad der Selbständigkeit und nicht mehr der Zeitaufwand des Hilfebedarfs" ist, auch wenn die Bewertung des Selbständigkeitsgrades die große Herausforderung für die MDK-Begutachter sei. Verhalten zeigte sich der MDK-Vertreter dagegen im Blick auf die Tauglichkeit und Transparenz der insgesamt acht Module, nach denen künftig der Grad der Pflegebedürftigkeit festgestellt werden soll. Besonders die Berechnung im neuen Punktesystem sei teilweise unschlüssig. Angesichts der "Komplexität der Intransparenz" werde man da noch viel Erfahrung sammeln müssen, sagte Böhler. Er zeigte sich jedoch fest davon überzeugt, dass mit dem neuen System Leistungen gerechter zugeteilt werden können.
Verlust von Differenzierungsfähigkeit
Deutliche Skepsis am neuen Begutachtungsverfahren war bei Professor Albert Brühl vom Lehrstuhl für Statistik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar zu hören. Er kritisierte, dass aus den Punktezahlen der einzelnen Module und Items Summen gebildet werden, aus denen der Pflegegrad errechnet wird. Diese Summenbildung verletze messtheoretische Grundsätze und bedeute in der Folge einen Verlust von Differenzierungsfähigkeit, so der Statistiker. Die sei aber wichtig, um in der Praxis die Einstufung in Pflegegrade mit der Personalausstattung und der Pflegequalität in Beziehung setzen zu können. "Das gibt das NBA nicht her", so Brühls Fazit.
Mit dem Blick auf mögliche Konsequenzen des NBA in der Pflegedokumentation riet der Einrichtungsleiter und Organisationsberater Volker Hagemann aus Hannover den Pflegefachkräften, sich schnellstens mit den neuen Begutachtungsrichtlinien auseinanderzusetzen und deren "neue Sprache" zu lernen. Beides ist für die Einrichtungen und Diensten wichtig: sowohl für die Beratung von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen als auch für die betriebliche Steuerung. Der Diözesanverband hat deshalb ein ganzes Paket an Angeboten geschnürt, um seine Mitgliedseinrichtungen auf die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs vorzubereiten. (tom)